Das Rivius Gymnasium feiert in diesem Jahr ein besonderes Jubiläum: Vor 150 Jahren, im August 1875, wurden die ersten Abiturprüfungen durchgeführt. Damit war unsere Schule die erste (und für lange Zeit auch einzige) Schule, an der man im heutigen Kreisgebiet das Abitur erwerben konnte.
Aus diesem Anlass wollen wir in den kommenden Monaten in unregelmäßigen Abständen an besondere Ereignisse aus der langen Schulgeschichte erinnern. Ausgangspunkt hierfür wird jeweils ein „Überrest“ aus der Vergangenheit sein. Das hier abgebildete Foto der Schule aus der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg wird aber erst in einem späteren Beitrag thematisiert. Morgen beginnen wir mit dem ersten Abiturzeugnis aus dem Jahr 1875.
Wir wünschen allen geschichtsinteressierten Leserinnen und Lesern schon jetzt viel Vergnügen auf der Reise in die Vergangenheit unserer Schule.

Auf den Spuren der Vergangenheit – Das erste Abiturzeugnis von 1875

Das erste Abiturzeugnis an unserer Schule dürfte für Heinrich Dahm aus Affeln ausgestellt worden sein, der die alphabetische Liste seines Abiturjahrgangs 1875 anführte. Bei unserer „Quelle des Monats“ handelt es sich allerdings nicht um das Original, denn dieses wurde natürlich dem Schüler selbst übergeben. Aber damals wie heute verbleibt von jedem Abiturzeugnis eine Kopie in der Schule, anhand derer bei Beschädigung oder Verlust ein Ersatz-Zeugnis ausgestellt werden kann. Um diese „Ausfertigung“ dürfte es sich hier also handeln.

Im Vergleich zu heutigen Zeugnissen fällt auf, dass damals die persönlichen Informationen von den Lehrern handschriftlich in vorgedruckte Formulare eingetragen werden mussten. Das war übrigens noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durchaus üblich und änderte sich erst mit dem Siegeszug der elektronischen Datenverarbeitung. Für uns ergibt sich dadurch das Problem, dass wir die im Jahr 1875 übliche Schreibschrift auf den ersten Blick nicht lesen können. Mit etwas Mühe und einigen Hilfsmitteln haben wir allerdings das meiste entziffern können, auch wenn wir uns nicht bei jedem Wort ganz sicher sind. Für alle Interessierten haben wir unsere „Transkription“ am Ende dieses Textes angefügt.

Für heutige Maßstäbe sind einige Angaben auf dem Zeugnis ungewohnt, etwa die Nennung des Namens des Vaters des Abiturienten und dessen Berufsbezeichnung. Warum auf Heinrichs Ausfertigung vom Vater nur die Berufsbezeichnung „Lehrer“ steht und sonst nichts, können wir nur vermuten. Auf dem Originalzeugnis wird sicher auch der vollständige Name des Vaters gestanden haben.

Es folgt eine Angabe, wie lange der Schüler das Gymnasium besucht hat (bei Heinrich waren es 6 Jahre), mit der zusätzlichen Bemerkung, wie viele Jahre davon „in der ersten Klasse“ verbracht wurden, in Heinrichs Fall zwei Jahre. Das heißt aber nicht, dass er schon in der ersten Klasse ein Schuljahr wiederholen musste. Damals spielten am Gymnasium die „alten“ Sprachen Latein, Griechisch und auch Hebräisch noch eine viel größere Rolle als heute, und vielfach wurde sich auch im Schulalltags lateinischer Begriffe bedient. Die neun Jahrgangsstufen etwa wurden nicht von Klasse 5 aufwärts durchgezählt, wie es heute der Fall ist, sondern mit römischen Zahlen bezeichnet. Vom Abitur aus gesehen war die erste Klasse die „Prima“, aufgeteilt in die beiden Jahre „Oberprima“ (Klasse 13) und „Unterprima“ (Klasse 12). Das ging dann so weiter über die Ober- bzw. Unter-„Sekunda“, (Klassen 11 bzw. 10), die Ober- bzw. Unter-„Tertia“ (Klassen 9 und 8) und die „Quarta“ (Klasse 7), „Quinta“ (Klasse 6) und „Sexta“ (Klasse 5). Heinrich ist also wahrschlich in der 8. Klasse auf unsere Schule gewechselt und hat dann nach sechs Jahren sein Abitur gemacht.

Heinrich scheint zudem auch ein sehr guter Schüler gewesen zu sein. Unter Punkt I „Sittliche Aufführung und Fleiß“ wird ihm bescheinigt, dass ihn seine „geistigen Gaben befähigten, den wissenschaftlichen Forderungen gerecht zu werden“. Für solche Schüler, die im schriftlichen Abitur gute Leistungen erbrachten, gab es die Möglichkeit der Befreiung von den mündlichen Prüfungen, und auch Heinrich wäre beinahe in den Genuss dieser „Auszeichnung“ gekommen. Allerdings nur beinahe, denn da es sich bei ihm und seinen Mitschülern um den ersten Abiturjahrgang der Schule handelte, wollte die Schulaufsicht auch alle angehenden Abiturienten in mündlichen Prüfungen persönlich begutachten. Als „königlicher Commissarius“, als Prüfungsvorsitzender, reiste ein Geheimrat Schultz extra aus Münster an, um sich von der Reife der Attendorner Abiturienten und damit auch von der ordnungsgemäßen Arbeit der Schule zu überzeugen. Direkt nach ihm unterschrieb der damalige Attendorner Bürgermeister Heim das Zeugnis, bevor dann mit Herrn Ramdohr als kommissarischem Schulleiter der erste Lehrer der Schule an der Reihe war. Eigentlich hätte hier der langjährige Schulleiter Direktor Wiedmann unterschreiben sollen, der sich über viele Jahre hinweg dafür eingesetzt hatte, dass man in Attendorn überhaupt Abitur machen konnte. Doch nur wenige Monate nach der Erhebung „seiner“ Schule zur „Vollanstalt“ und damit kurz vor den ersten Abiturprüfungen verstarb Bernhard Wiedmann, so dass sein Name auf dem Zeugnis leider fehlt.

Trotz dieses traurigen Umstands gab es im August 1875 reichlich Grund zum Jubeln, denn alle neun Schüler, die zur Prüfung zugelassen worden waren, bestanden auch das Abitur. Ob aus diesem Anlass erstmals das „Glöckchen“ geläutet wurde? Gut möglich, aber nicht sicher. Sicher ist allerdings, dass es noch viele Jahre dauern sollte, bis zum ersten Mal auch einem Mädchen am Gymnasium zu Attendorn das „Zeugniss der Reife“ erteilt wurde.